Leseprobe aus der 3. Episode: Es wird so langsam Zeit in der Zeitenwelt

Vorzeit

 

Die Zeitenwelt war ganz in ihren Anfängen, also so weit zurück, dass sich fast niemand mehr daran erinnern kann, ein recht gefährliches Pflaster. Sie war das, was man einen kriegerischen Planeten nannte.
Jeder glaubte, die Weisheit mit Löffeln gefressen oder aus großen Trinkbechern getrunken zu haben. Und wenn die Argumente für die eigene Meinung einmal nicht mehr ausreichten, griff man zu anderen Mitteln. Das änderte sich erst, als es schon fast zu spät war.
Aber fangen wir am Anfang an:
Weit zurück in der Zeit nannte jedes Zeitenweltlerland ein riesiges Waffenarsenal sein Eigen. Und dieses diente nicht der Abschreckung, sondern wurde regelmäßig benutzt. Beinahe hätte dies die ein oder andere Lebensform – wenn nicht die gesamte Zeitenwelt – komplett ausgerottet.
Wir brauchen nur an damals zurückdenken, damals in der Zeit der großen Vogelkriege. Die Amseln und Drosseln und auch die Finken und Stare waren in diesen Kriegen fast vollständig vernichtet worden. Und warum? Nur weil die mächtigsten unter den äußerst schlecht erzogenen Rüpelhaften Raben nicht ertragen konnten, dass man die Lieder der anderen Vögel in allen Straßen und Gassen pfiff, während sie selbst ein trostloses und unentdecktes Dasein fristeten? Sagt selbst, ist das wirklich ein Grund dafür, einen Krieg anzuzetteln?
Hätten die Vögel miteinander geredet, wäre ihnen vielleicht viel Leid erspart geblieben. Allerdings war dies damals nicht so angesagt. Nicht das Reden an und für sich, denn geredet wurde sehr viel: doch leider nicht miteinander, sondern vielmehr übereinander.
Erst als es den Adlern an den Kragen gehen sollte, wendete sich das Blatt.

 

 

Der Jüngling

 

Wir befinden uns in einer frühen und heißen Wachzeit, also der Zeit, zu der man in der Zeitenwelt üblicherweise wach zu sein pflegt. Flammoria, die Sonne der Zeitenwelt, machte ihrem Namen gerade mal wieder alle Ehre, als es bei der Guten Menschin an der Tür klopfte.
Erstaunt darüber, wer sie denn so früh aufsuchen würde, ließ sie ihre sieben Sachen, die sie gerade zusammengesucht hatte, liegen und öffnete die Tür. Vor ihr stand ein junger Mann. Mit gesenkten Schultern und einem melancholischen Blick wirkte er wie einer der Studenten aus einer schweren oder mittelschweren Universität.
»Entschuldigung!«
»Ja?« Die Gute Menschin sah den Jüngling mit gerunzelter Stirn an.
»Entschuldigung. Ich weiß, dass es noch sehr früh ist, aber ich bin seit einigen Zeiten unterwegs und die ganze Schlafzeit durchgelaufen.«
»Hm?« Der Guten Menschin war dieser Jüngling gänzlich unbekannt. Selbst beim Durchforsten der verstecktesten Winkel ihres Gedächtnisses entdeckte sie keinen Grund dafür, warum er vor ihrer Tür stand.
»Ich habe gehört, Sie kommen von der Kugel.«
Jetzt wurde sie hellhörig. Was wollte dieser junge Zeitenweltler von ihr?
»Ja?«
»Darf ich reinkommen? Ich würde Ihnen gerne alles in Ruhe erklären.«
»Ich muss jetzt zur Arbeit. Komme am besten mit.«
Sie legte sich ein Tuch um, schlüpfte in ihre Schuhe, stopfte schnell ein Bündel mit Papieren in ihre Handtasche, griff nach dem Hausschlüssel und einem metallenen Becher. Bevor sie das Haus verließ, sah sie sich noch einmal um. Irgendetwas fehlte ihr noch. Ihr Blick fiel auf einen Brief, der auf einem Schrank lag. Richtig! Die Beschwerde aus dem Gartencenter.

 

 

 

Die Entscheidung

 

Die Gute Menschin verabschiedete den Studenten und ging ihren Aufgaben nach. Insbesondere die sich häufenden Einwürfe in den Kummerkasten machten ihr zu schaffen.
Sie war nun schon ziemlich lange auf der Zeitenwelt. Wie lange eigentlich? War es nicht schon zu lange? Zunächst hatte sie zurück zur Erde gewollt, sich dann aber damit abgefunden, dass dies nicht mehr möglich zu sein schien. So nach und nach kamen allerdings Heimwehgefühle hoch. Und nun dies. Dieser Junge, der ... ja, was wollte er von ihr? Sollte sie mit ihm ein Portal zur Erde öffnen, um seine Eltern zu suchen. Das war nicht möglich. Und bei aller Zuständigkeit, sie trug schließlich nicht für alles die Verantwortung. Obwohl? Da war das Prinzip der generellen Verantwortung in der Zeitenwelt. Es hing irgendwie mit einer alten Sage zusammen. Doch bislang hatte ihr niemand Genaueres erklären können. Und was sollte sie jetzt tun? Dem Jüngling helfen? Einen Weg zur Erde suchen? Zurückkehren in ihre alte Heimat? Sie wischte die aufkommenden Gedanken beiseite.

 

 

Die Vorbereitungen

 

»Hallo, meine Liebe.« Die Froschkönigin umarmte die Gute Menschin. »Was höre ich von den Zwergen? Du willst die Waisen aufsuchen?«
»Ach nein, liebe Freundin, die Weisen, die Weisen wollen wir suchen.«
Beide sahen sich an und lachten aus vollem Halse. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich beruhigten und die Froschkönigin wieder sprechen konnte.
»Was willst du von den Weisen?«
»Na ja. Also.« Die Gute Menschin setzte zu einer Erklärung an und verstummte dann wieder.
»Ja?« Die Froschkönigin schaute ihre Freundin interessiert an.
»Ich bin von einem jungen Schwerhaber aufgesucht worden.«
»Ein Schwerhaber? Im Frauenland? Oh je! Vielleicht sollten wir das Überschreiten der Landesgrenzen doch wieder einstellen.« Die Froschkönigin schüttelte den Kopf und ihre dunklen Locken tanzten dabei von links nach rechts und zurück.
»Nein, das ist schon okay. Er ist nicht mit einer der üblichen Schwerhabereien zu mir gekommen.«
»Ach?«
»Nein, meine Liebe. Er vermisst seine Eltern. Sie sind seinerzeit bei einem Karussellunfall durch ein Portal zur Erde verschwunden.«
»Aha.«
»Ja, er hat mich gebeten, ihm bei der Suche nach ihnen zu helfen.«
»Und du willst das machen?«
»Ach, meine Liebe, meine Gedanken haben mich hin und her getrieben.«
»Hm.«
»Ich hatte mich ja damit abgefunden, hier in der Zeitenwelt zu bleiben. Aber was, wenn das gar nicht der richtige Weg für mich ist? Für mich und für euch, also für alle, meine ich.«
»Für alle? Was meinst du damit?«
»Die Schließung der Portale. Vielleicht sollten wir sie nicht so einfach hinnehmen. Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los.«

 ⁂

 

Das Blumenmeer

 

Wie sich zur Halbzeit herausstellte, war der Weg der Lilie 1 vorprogrammiert. Gab es unterwegs Hindernisse, so wurden sie mittels einer Kamera gescannt und der Weg angepasst. Der Anhänger hatte eine eigene Kamera und folgte der Lilie über alle Hürden und Hindernisse hinweg.
Die Lilien waren von der Kostümträgerin entwickelt und konstruiert worden. Auf der Erde arbeitete sie als erfolgreiche Maschinenbauingenieurin und war eine der ersten in den Austauschprogrammen gewesen. Nach Schließung der Portale stand sie – ebenso wie die Gute Menschin – vor der Wahl, sich ihrem Schicksal in einem der Lager vor einem Portal zu ergeben oder nach einer Alternative zu suchen. Letztendlich hatte sie es mir nicht bekannten, aber dennoch glücklichen Umständen zu verdanken, dass sie heute als Geschäftsführerin in einem beliebten Reisebüro im Frauenland arbeitet.

 


Die Gute Menschin ging davon aus, dass die Launen der Nörgelnden Narzissen sich bei der Aussicht, ihre Heimat wiederzusehen, wesentlich verbessern würden. Doch das war ein Irrtum.
»Auf dem wackeligen Ding sollen wir reisen?«
»Und dann übers Blumenmeer? Da werde ich seekrank.«